1. Startseite
  2. Magazin
  3. Gesundheit
  4. Gar nicht so selten: ADHS bei Erwachsenen – Was hilft?

Gar nicht so selten: ADHS bei Erwachsenen – Was hilft?

Unkonzentriert, impulsiv, unruhig und chaotisch – lange hielt man die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) für eine Erkrankung von Kindern und Jugendlichen. Inzwischen ist klar: ADHS betrifft auch viele Erwachsene und kann für sie und ihr Umfeld herausfordernd sein. Aber es gibt wirksame Behandlungen und Strategien, um mit ADHS gut klarzukommen.

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, früher auch als „Zappelphilipp-Syndrom“ bezeichnet, zählt zu den häufigsten psychiatrischen Störungen im Kindes- und Jugendalter. ADHS-Betroffene fallen durch folgende Kernsymptome auf:

  • Aufmerksamkeitsstörung: erhöhte Ablenkbarkeit, eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit
  • Hyperaktivität: (motorische) Unruhe, übersteigerter Bewegungsdrang
  • Impulsivität: mangelhafte Impulskontrolle, unüberlegtes Handeln

Schätzungen zufolge sind etwa 3 bis 7 Prozent der Kinder im Schulalter von ADHS betroffen. Heute weiß man, dass sich die Störung in vielen Fällen nicht einfach „auswächst“: Rund 2,5 bis 4,7 Prozent der Erwachsenen erfüllen ebenfalls die Kriterien einer ADHS.

Wie entsteht ADHS?

Die Ursachen der ADHS sind noch nicht vollständig aufgeklärt. Experten gehen davon aus, dass verschiedene Faktoren zur Entstehung der ADHS beitragen: genetische und Umweltfaktoren, aber auch Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen. Diese können zu Entwicklungsauffälligkeiten neuronaler Regelkreise und zu Veränderungen im Botenstoffsystem des Gehirns führen.

ADS oder ADHS?

Gelegentlich hört oder liest man noch den Begriff „Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS)“. Doch heute hat sich weitgehend die Bezeichnung „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)“ durchgesetzt, die berücksichtigt, dass Hyperaktivität (Unruhe, übermäßiger Bewegungsdrang) zu den Symptomen der Störung zählt. Fakt ist, dass ADHS mit mehr oder weniger Hyperaktivität einhergehen kann. Während sich die Hyperaktivität bei Kindern oft in Form von motorischer Unruhe äußert, berichten viele erwachsene ADHS-Betroffene eher von einer inneren Unruhe.

Wie äußert sich ADHS bei Erwachsenen?

ADHS-Kinder fallen in der Schule beispielsweise dadurch auf, dass sie auf dem Stuhl hin und her rutschen, oder mitten im Unterricht aufstehen und mit Antworten herausplatzen, ohne dass sie gefragt wurden. Nur wenige Erwachsene mit ADHS legen ein solches Verhalten an den Tag. 

Doch auch Erwachsene zeigen die typischen ADHS-Kernsymptome, nur in etwas anderer Form und Ausprägung:

  • Aufmerksamkeitsstörung: Probleme beim Ausführen von Arbeitsanweisungen, erhöhte Ablenkbarkeit bei Routinearbeiten oder im Straßenverkehr, Probleme, Gesprächen zu folgen, Vermeidungsverhalten, „Aufschieberitis“, Verlegen von wichtigen Gegenständen (Schlüssel, Brille etc.)
  • Hyperaktivität: Motorische Unruhe, mit den Füßen wippen, mit den Fingern trommeln, starkes Gefühl der inneren Unruhe, dominante Gesprächsführung
  • Impulsivität: Ungeduld, wenn andere eine Aufgabe durchführen, ungefragtes Einmischen in Gespräche anderer, Warten müssen (z. B. beim Arzt oder beim Schlangestehen an der Supermarkt-Kasse) führt zu Aggression

Darüber hinaus weisen viele Erwachsene mit ADHS weitere Auffälligkeiten auf, beispielsweise häufige Wechsel zwischen normaler Stimmung und Niedergeschlagenheit, eine geringe Frustrationstoleranz, erhöhte Reizbarkeit und Wutanfälle oder aufbrausendes Verhalten. Desorganisiertes Verhalten kann zu Schwierigkeiten in der Familie und am Arbeitsplatz führen, wenn z. B. Aufgaben nicht zu Ende gebracht oder Termine nicht eingehalten werden.

Auswirkungen auf alle Lebensbereiche

ADHS kann zu einer ganzen Reihe von Folgeproblemen führen. Betroffene brechen häufig vorzeitig die Schule oder die Ausbildung ab, was ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert. Die Berufsbiografie von Menschen mit ADHS ist oft recht bunt und gekennzeichnet durch häufige Jobwechsel und durch Phasen der Arbeitslosigkeit. Gründe dafür sind u. a. die mangelnde Strukturiertheit und starke Impulsivität, die Schwierigkeiten mit den Kollegen und Vorgesetzten bedingen können.

Partnerschaftskonflikte, Beziehungsabbrüche und Scheidungen sind bei ADHS-Betroffenen häufig. Denn es kann schwierig sein, mit einem Menschen zusammenzuleben, der unaufmerksam, unzuverlässig oder aufbrausend ist.

Erwachsene mit ADHS neigen zudem zu verstärktem Suchtmittelkonsum bis hin zu Suchterkrankungen. Das scheint u. a. daran zu liegen, dass viele Suchtmittel Botenstoffe im Gehirn beeinflussen, die eine wichtige Rolle bei ADHS spielen. Wenn ein ADHS-Betroffener merkt, dass er sich nach Konsum von Alkohol, Nikotin oder Drogen ruhiger fühlt, kann das rasch zu einem übermäßigen Gebrauch führen.

Menschen mit ADHS erleiden häufiger Unfälle, was wahrscheinlich auf ihre Unaufmerksamkeit und Ablenkbarkeit, aber auch auf ihre erhöhte Impulsivität zurückzuführen ist.

Wie sich ADHS auf den Alltag und das gesamte Leben auswirken kann, beschreibt die Journalistin Angelina Boerger sehr eindrucksvoll in ihrem Buch „Kirmes im Kopf“.

ADHS kommt selten allein

Menschen mit ADHS haben ein erhöhtes Risiko, im Lauf ihres Lebens zusätzlich noch weitere psychische Erkrankungen zu entwickeln, z. B.:

  • Angststörung
  • Depression
  • Suchterkrankung

Wie wird ADHS bei Erwachsenen diagnostiziert?

Es gibt keinen Labortest, mit dem man eine ADHS nachweisen könnte. Online-Selbsttests reichen für eine ADHS-Diagnose nicht aus – sie können aber Hinweise geben, ob eine ADHS-spezifische Diagnostik durchgeführt werden sollte.

„Die ADHS-Diagnostik bei Erwachsenen sollte von einer erfahrenen Fachperson durchgeführt werden, die in den Bereichen Psychiatrie, Neurologie, psychosomatische Medizin oder psychologische Psychotherapie tätig ist“, rät Dr. Peter Praus von der Spezialambulanz für ADHS im Erwachsenenalter am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim.

Die Untersuchung beginnt mit einem ausführlichen Gespräch (Anamnese), in dem aktuelle Probleme und Symptome erfragt werden und die Lebensgeschichte sowie die Entwicklung der Probleme bis zur Gegenwart erfasst werden. Hilfreich ist es, wenn auch der Lebenspartner oder Angehörige berichten, was ihnen am Verhalten der Person aufgefallen ist.

Standardisierte Fragebögen, die der Betroffene und seine Angehörigen ausfüllen, können bei der diagnostischen Abklärung helfen, ggf. auch testpsychologische Untersuchungen. Eine ADHS kann nur diagnostiziert werden, wenn die typischen Symptome in ausreichender Anzahl und Schwere vorliegen und wenn diese schon seit der Kindheit bestehen.

Für viele Betroffene, die sich vielleicht schon seit Jahren gefragt haben, warum sie „anders ticken“, ist es eine Erleichterung, die Diagnose ADHS zu erhalten, weil es nun eine Erklärung für ihre Schwierigkeiten gibt. Und ADHS ist eine Störung, für die es verschiedene Behandlungsmöglichkeiten und Hilfen gibt.

Therapiemöglichkeiten für Erwachsene mit ADHS

Ist die Diagnose ADHS gestellt, soll der Betroffene von seinem Heilbehandler ausführlich über das Krankheitsbild aufgeklärt und beraten werden („Psychoedukation“). Seriöse ADHS-Informationen gibt es auch im Internet (z. B. unter www.zentrales-adhs-netz.de oder www.adhs-deutschland.de

In der Regel ist die Therapie der ADHS im Erwachsenenalter multimodal, d. h., es kommen je nach den individuellen Bedürfnissen des Betroffenen unterschiedliche Behandlungsmethoden zum Einsatz. Dazu zählen u. a. ADHS-spezifische Verhaltenstherapie, Ergotherapie oder Coaching, aber auch Medikamente wie Stimulanzien (Methylphenidat, Lisdexamfetamin) oder Atomoxetin.

„Je schwerer die Symptomatik ist, umso eher wird eine medikamentöse Behandlung empfohlen. Aber auch bei leicht ausgeprägter ADHS-Symptomatik können ADHS-spezifische Medikamente eingesetzt werden.”
Dr. Praus

Die Entscheidung, welches Therapiekonzept am besten passt, sollte von Patient und Arzt gemeinsam getroffen werden.

Was Menschen mit ADHS selbst tun können

Einige Dinge wirken sich insgesamt positiv auf die Gesundheit und das Wohlbefinden aus – egal, ob eine ADHS vorliegt oder nicht:

  • Ausreichend Schlaf
  • Ausgewogene, gesunde Ernährung
  • Regelmäßige Bewegung
  • Pausen einlegen
  • Angenehmer Arbeitsplatz (Stille am Arbeitsplatz oder leise Hintergrundmusik – je nach persönlicher Vorliebe)

Checklisten, To-do-Listen und Rituale sind für viele ADHS-Betroffene eine große Hilfe, um sich zeitlich nicht zu „verzetteln“ und planvoller handeln zu können. Beispielsweise kann es hilfreich sein, eine genaue Morgenroutine zu entwickeln (zur gleichen Zeit aufstehen – auf die Toilette gehen – duschen – Deo – anziehen – ausgewogenes Frühstück – Zähne putzen – Tasche/Rucksack packen – losgehen).

Ebenso kann es hilfreich sein, Wochenpläne zu erstellen und bestimmte Tätigkeiten (Einkaufen, Wäsche waschen, Staubsaugen) jeweils an einem bestimmten Wochentag durchzuführen. Gleichbleibende Abfolgen und Wiederholungen führen zu einer gewissen Automation und entlasten das Gedächtnis.

Viele Erwachsene schätzen zudem die Unterstützung durch (Online-) Selbsthilfegruppen. Dort kann man sich mit Gleichbetroffenen austauschen und praktische Tipps geben lassen.

Die guten Seiten der ADHS

Menschen mit ADHS haben nicht nur „schwierige“ Eigenschaften, die zu Problemen führen können, sondern auch sehr viele positive Wesenszüge wie Einfallsreichtum, Originalität, Spontaneität und Begeisterungsfähigkeit. Viele bedeutende Künstler, Erfinder, Schriftsteller und Politiker hatten oder haben eine ADHS. Sie konnten Hervorragendes leisten, weil ihre unkonventionelle Art zu denken und ihre Kreativität ihnen geniale Einfälle und Entwicklungssprünge bescherten.

Wenn es ADHS-Betroffenen gelingt, Durchhaltevermögen und Struktur zu entwickeln und ihre besten Ideen konsequent umzusetzen, können sie sehr viel erreichen.

Drei Fragen an die ADHS-Expertin Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz, Aschaffenburg/München

Bin ich nur ein bisschen schusselig oder habe ich ADHS? Wie und bei wem kann ich das abklären lassen?

Dr. Neuy-Lobkowicz: Problematisch ist, dass wir eine eklatante Unterversorgung für Diagnostik und Therapie der ADHS haben, das muss dringend geändert werden. Man kann sich an ADHS-Experten oder ADHS-Ambulanzen wenden, aber beide haben sehr lange Wartezeiten. Ich schlage immer vor, sich erst einmal selbst über ADHS schlauzumachen, z. B. auf der Homepage des Bundesverbandes der Selbsthilfegruppen www.adhs-deutschland.de, oder indem man gute ADHS-Bücher liest. Da spürt man dann besser, ob einem die beschriebenen ADHS-Symptome aus dem Herzen sprechen und man sich damit identifizieren kann.

Was können Erwachsene mit ADHS(-Verdacht) selbst tun, um ihren Alltag besser zu bewältigen?

Dr. Neuy-Lobkowicz: Gesunde Ernährung, Ausdauersport, Strategien für Selbstorganisation und natürlich die Beschäftigung mit ADHS sind sinnvoll. Es hilft auch sehr, andere Menschen zu treffen, die ebenfalls von ADHS betroffen sind. ADHS ist eine besondere Art zu sein, mit der man auf die Welt kommt. Es hilft, wenn Betroffene verstehen, dass sie nicht unfähig, dumm oder faul sind, weil sie Probleme mit der Konzentration, der Motivation und ihrer Gefühlskontrolle haben. Sie brauchen die Erfahrung, dass sie anders sind und dass ihnen jemand erklärt, wie und warum. Wichtig ist immer wieder zu betonen, dass ADHS-Betroffene auch besondere Stärken haben wie Originalität, Kreativität, einen starken Gerechtigkeitssinn, hohe Flexibilität und vieles mehr.

Wie schätzen Sie den Stellenwert der medikamentösen ADHS-Therapie für Erwachsene ein?

Dr. Neuy-Lobkowicz: ADHS ist anders als andere seelische Erkrankungen: ADHS hat keine Ursache in der Kindheit, und ADHS entsteht nicht als Folge unbearbeiteter Konflikte. ADHS ist eine erbliche und neurobiologische Erkrankung, die medikamentös behandelt gehört, wenn ADHS Probleme macht. ADHS-Betroffene erleben die Medikation oft als lebensverändernd. Mit der Medikation können sie sich plötzlich konzentrieren, sie können Aufgaben anfangen und zu Ende bringen, sich endlich einmal entspannen und ihre Gefühle besser regulieren.

Quellen

Icon, das einen Experten/eine Expertin symbolisiert. Symbol für die Envivas Fach-Experten.

Dr. Peter Praus

Experte

von der Spezialambulanz für ADHS im Erwachsenenalter am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim

Andrea Wülker