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Geschwister: Warum sie unser Leben mehr prägen, als wir annehmen
Wir konkurrieren und streiten mit ihnen. Wir lernen von ihnen und halten zusammen. Wir haben Geheimsprachen, die sonst keiner kennt, eigentlich verstehen wir uns aber wortlos. Geschwister haben eine bedeutende Rolle für unsere individuelle Entwicklung. Psychologen weisen darauf hin, dass wir uns von Schwestern und Brüdern nicht nur viel abgucken und soziale Fähigkeiten für das spätere Leben mit ihnen einüben können. Die Beziehung zu ihnen hat auch Einfluss auf unser Selbstbild, unsere Persönlichkeit und unseren Werdegang.
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„Er hat angefangen!“ – „Nein, sie!“ Erinnern Sie sich auch an solche Streitereien mit Ihren Geschwistern? Falls ja: Herzlichen Glückwunsch! Einer Studie der Universität Cambridge zufolge sind Sie sozial kompetent und haben eine gute Streitkultur entwickelt. Das gilt selbst dann, wenn die Meinungsverschiedenheiten heftig waren. Im späteren Leben, so die Forscher, profitieren Menschen, die sich mit Geschwistern auseinandersetzen mussten.
Dem Statistischen Bundesamt zufolge sind das immer noch die meisten Kinder in Deutschland: Nur etwa jedes vierte Kind wächst ohne Geschwister auf. „Mit Geschwistern lernen wir zu streiten, uns abzuwechseln, durchzusetzen und Rücksicht zu nehmen“, sagt Jürg Frick, Psychologe und Berater an der Pädagogischen Hochschule in Zürich und Autor des Buches „Ich mag dich, du nervst mich! Geschwister und ihre Bedeutung fürs Leben“. Jüngere Geschwister lernen durch die älteren außerdem häufig früher lesen, schreiben und rechnen. Auf der anderen Seite erfahren wir durch Brüder und Schwestern auch Abgrenzung und Konkurrenz. Hat ein Kind das Gefühl, immer schlechter abzuschneiden als das Geschwisterkind, kann das sein Selbstbild dauerhaft schwächen.
Geschwisterbeziehungen beeinflussen unsere Partnerschaft
Ob wir nun Verbündete sind oder Rivalen: „Die Erfahrungen, die wir als Kinder mit unseren Geschwistern machen, beeinflussen unsere inneren Bilder und Muster noch im Erwachsenenalter“, sagt Frick. Er hat in der Praxis häufig mit Geschwisterproblematiken zu tun. „Ich merke, wie wichtig Geschwisterbeziehungen für Menschen sind, auch wenn sie selbst häufig gar nicht sehen, wie sehr sie das prägt.“ Bis hinein in ihre eigenen Beziehungen oder die Art, wie sie ihre eigenen Kinder erziehen. „Wenn beispielsweise eine Frau einen Bruder erlebt hat, der immer alles besser gewusst hat, reagiert sie als Erwachsene mit größerer Wahrscheinlichkeit allergisch auf solche Menschen“, sagt der Psychologe. „Im besten Fall sucht sie sich einen Partner, der nicht so ist.“ Im schlimmsten Fall gerät sie an eben einen solchen Mann. Und dann spielt sich das Drama von zu Hause mit dem Partner in ähnlicher Form wieder ab: „Die Frau fühlt sich kritisiert, vielleicht auch zu Recht. Aber dann kommen plötzlich Muster ins Spiel, die durch den Partner zwar ausgelöst werden, aber ihren Ursprung in der eigenen Familie haben.“
Nicht gleich behandeln, sondern fair
Jürg Frick rät Eltern dazu, ihre Kinder als unverwechselbare Individuen mit Stärken und Schwächen wertzuschätzen. Es sei wichtig, dass sie die unterschiedlichen Eigenschaften der Kinder nicht hervorstreichen und miteinander vergleichen. Also nicht Sätze sagen wie: „Schau mal, wie verantwortungsvoll dein Bruder schon ist“. Das bedeutet aber nicht, dass Eltern ihre Kinder möglichst gleich behandeln sollten. „Das geht gar nicht und es wäre ein gravierender Fehler, wenn man das überhaupt anstrebt“, sagt er und verdeutlicht an einem einfachen Beispiel, was er damit meint: „Wenn Sie allen Kindern beim Essen gleich viel auf den Teller schöpfen, ist das eigentlich ungerecht.“ Denn das eine Kind hat mehr Hunger und das andere mag gar nicht so viel. „Man muss Kinder nicht gleich behandeln – man muss sie fair behandeln und ihnen das geben, was sie brauchen“.
Kindergarten als Trainingsplatz für Einzelkinder
Auch wenn der Großteil der Kinder in Deutschland mit mindestens einem Geschwisterkind aufwächst: Der Altersabstand der Kinder in einer Familie wird tendenziell größer, und Familien mit mehr als zwei Kindern sind eher die Ausnahme. Im Durchschnitt kommt das zweite Kind in Deutschland rund 3,2 Jahre nach dem ersten zur Welt. Christian Alt, Soziologe und Familienforscher am Deutschen Jugendinstitut in München ist sich sicher: „Kinder lernen von anderen Kindern unheimlich viel und unheimlich schnell. Aber wenn die Geschwister einen zu großen Altersunterschied haben, haben sie kaum noch etwas voneinander.“ Entscheidend ist also weniger, ob die Kinder verwandt sind oder zusammenleben. Sondern, dass sie etwa im gleichen Alter sind. „Da Eltern heute bereits früh Betreuungsangebote nutzen und die Kinder dort mit Gleichaltrigen zusammenkommen, gleicht sich das wieder aus“, ist Alt überzeugt. Das gleiche gilt für Einzelkinder.
„Prinzensturz“ nach Geburt des Geschwisterkindes
Je enger Geschwister altersmäßig zusammenliegen, desto mehr beeinflussen sie sich. Und desto mehr Streit gibt es auch, sagt Alt. Die Geburt des zweiten Kindes löst beim Erstgeborenen den sogenannten „Prinzensturz“ aus: Auf einmal muss es die Aufmerksamkeit der Eltern teilen. Das Baby steht im Mittelpunkt. Viele Kinder fühlen sich dadurch benachteiligt. Sie verlieren ihre exklusive Rolle, müssen sich neu positionieren. „Interessant ist, dass Geschwister sich häufig Positionen aussuchen, die sie vom anderen unterscheiden“, berichtet der Soziologe. Ist der eine an Naturwissenschaften interessiert, wendet der andere sich eher der Kunst zu.
Studie: Erstgeborene verdienen besser
Tatsächlich kommt eine Studie des Rostocker Max-Planck-Instituts für demografische Forschung und der Universität Stockholm (2017) zu dem Ergebnis, dass sich Erstgeborene mit höherer Wahrscheinlichkeit für Fächer wie Medizin und Ingenieurwesen oder Naturwissenschaften entscheiden – und besser verdienen, als ihre jüngeren Geschwister. Spätergeborene neigen der Studie zufolge eher zu künstlerischen oder pädagogischen Fächern. Die Forscher erklären das mit der „Exklusivzeit“, die das erste Kind mit den Eltern hat, in denen sie besonders gefördert werden.
Viele Geschwister finden als Erwachsene wieder zusammen
Ob wir als Erwachsene täglich telefonieren, uns nur noch zu Weihnachten sehen oder auch gar nicht mehr: Geschwisterbeziehungen sind in der Regel lebenslänglich. „Wenn die Kinder aus dem Haus sind, die Eltern vielleicht schon tot, dann wenden sich viele Menschen wieder ihren Geschwistern zu“, erzählt Psychologe Jürg Frick aus seiner Praxis. Auch wenn wir uns Geschwister anders als Freunde nicht aussuchen können: Wir teilen mit ihnen immerhin ein gemeinsames Schicksal. Und egal, wie sehr wir uns nerven und streiten: Soll mal jemand anderes wagen, ein schlechtes Wort über unsere Schwestern oder unseren Bruder zu verlieren. Am Ende halten wir zusammen.
Info
Was Eltern zu einer gelungenen Geschwisterbeziehung unter ihren Kindern beitragen können
- Kinder müssen nicht gleich behandelt werden, aber fair. Das heißt, die Bedürfnisse der Kinder sollten entsprechend ihres Alters und ihrer Neigungen berücksichtigt werden.
- Unterschiede im Wesen oder in den Leistungen der Kinder sollten nicht herausgestrichen oder gar verglichen werden.
- Kinder sollen lernen, Streit selbst aufzulösen. Wenn Eltern dazwischengehen müssen, sollen sie lieber versuchen, die Kinder dabei zu unterstützen, sich zu vertragen anstatt den „Schuldigen“ zu finden. Das ist häufig gar nicht möglich und führt im schlimmsten Fall zu unfairen Bestrafungen.
- Ein Kind darf nicht das Gefühl haben, immer schlechter abzuschneiden als das Geschwisterkind. Ist das der Fall, können Eltern versuchen, seine besonderen Fähigkeiten zu fördern und zu loben.
Deswegen ist es gut, Geschwister zu haben.
- Jüngere Geschwister lernen durch die älteren in der Regel früher lesen, schreiben und rechnen. Sie schauen sich außerdem Verhaltensweisen ab.
- Ältere Geschwister nehmen eine Vorbildrolle ein, die ihnen später häufig zugutekommt
- Geschwister im gleichen Alter können sich miteinander beschäftigen, spielen und sich gegen die Eltern „verbünden“.
- Geschwister lernen zu streiten, zu teilen und Rücksicht zu nehmen.
- Geschwister teilen ein Schicksal und können sich gegenseitig verstehen und unterstützen. Sie können einander ein Leben lang verlässliche Freunde sein.
- Fühlt ein Kind sich benachteiligt und erlebt das Geschwister als stets besser in seinen Leistungen, kann das sein Selbstbild allerdings dauerhaft schwächen.
- Fühlen sich Einzelkinder jetzt benachteiligt? Wenn sie darauf achten, dass das Kind etwa im Kindergarten mit Gleichaltrigen zusammenkommt und sich verabreden kann, entsteht dem Einzelkind kein Nachteil.
Quellen
- https://www.cam.ac.uk/research/news/sibling-rivalry-and-brotherly-love
- https://academic.oup.com/sf/article/96/2/629/4582720
- https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2018/04/PD18_128_122.html
- https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Geburten/Tabellen/LebendgeboreneGeburtenabstand.html
- http://fzdw.de/wp-content/uploads/2016/01/Newsletter-Juni-2018.pdf
- https://www.spektrum.de/frage/sind-einzelkinder-anders-als-kinder-mit-geschwistern/1587834