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Ghosting – wenn das Gegenüber plötzlich zum Geist wird
Der Haken in der WhatsApp-Sprechblase bleibt einsam und allein, im Instagram-Profil sind plötzlich keine Beiträge mehr zu sehen und der Anruf landet auf der Mailbox. Die andere Person hat die Beziehung abrupt und ohne Erklärung abgebrochen. Ghosting nennt sich dieses Phänomen und es tritt immer häufiger auf: in Partnerschaften, in Freundschaften, selbst im Berufsleben. Doch was steckt dahinter? Das ordnen wir gemeinsam mit den Experten Andreas Pichler und Jörg Matthes ein.
„Wir alle haben Bekannte, die wir einmal im Jahr treffen und mit denen wir sonst keinen Kontakt haben – das ist aber kein Ghosting“, erklärt Andreas Pichler, Psychologischer Psychotherapeut. „Ghosting tritt vor allem in der Online-Kommunikation und in den sozialen Medien auf: Eine Person bricht den Kontakt aktiv ab und löscht die Daten der anderen Person.“ Für diesen anderen löst sich die Person dann in Luft auf, sie wird quasi zu einem Geist, oder Englisch Ghost.
Was für die Definition auch wichtig ist: Der Ghoster gibt keinen Grund für den Kontaktabbruch an. Er oder sie ist einfach weg – und hinterlässt beim Opfer, denn so müssen wir diesen Menschen nennen, eine große Leere. „Menschen, die geghostet werden, empfinden Ohnmacht, Hilflosigkeit und tiefe Selbstzweifel“, sagt Andreas Pichler. In seiner Praxis in Königswinter hat er schon häufiger Patientinnen und Patienten behandelt, die geghostet wurden. „Ich kenne das Phänomen schon länger“, sagt Pichler, „aber in der Praxis taucht es seit zwei oder drei Jahren vermehrt auf.“
Jeder vierte Deutsche hat schon Erfahrung mit Ghosting gemacht
Tatsächlich gibt es, darauf weisen Expertinnen und Experten hin, das Phänomen des Ghostings schon lange. In verschiedenen Online-Artikeln wird da das plakative Beispiel vom Mann in den 80ern bemüht, der das romantische Treffen mit dem Vorwand verlässt, Zigaretten holen zu wollen, und nie wiederkommt. In den vergangenen Jahren aber hat das Phänomen unglaublich an Dynamik gewonnen. Der Begriff selbst kam erst im Zuge der sozialen Medien auf. 2015 wurde „Ghosting“ dann in das englische Wörterbuch „Collins“ aufgenommen.
Umfragen zufolge hat jeder vierte Deutsche bereits Erfahrung damit gemacht, bei den unter 30-Jährigen sollen die Zahlen deutlich höher sein. Laut einer amerikanischen Studie des „Pew Research Centers“ aus dem Jahr 2020 war bei den 18- bis 29-Jährigen sogar fast jeder zweite betroffen. Ghosting ist mittlerweile so weit verbreitet, dass es in Berlin sogar eine „Ghosting Ambulanz“ gibt. Psychologin Anja Wermann, selbst einstiges Ghosting-Opfer, berät hier speziell bei Fällen dieses krassen Kontaktabbruchs. Doch trotz alldem: Die Forschung in dem Bereich ist noch lückenhaft.
Nicht nur junge Menschen sind betroffen
Doch Ghosting betrifft nicht nur junge Menschen. Psychologe Andreas Pichler erzählt einen Fall aus seiner Praxis: Ein älterer Mann, der schon länger wegen Depression bei ihm in Behandlung ist, hatte seit etwa einem Jahr eine ernsthafte Beziehung mit einer Frau. Zwar gab es immer mal wieder Probleme, aber auch gemeinsame Zukunftspläne.
An einem Abend telefonierten die beiden noch in vertrauter Atmosphäre, nur zwei Tage später dann schickte die Frau eine SMS und beendete das Verhältnis ohne Erklärung. Danach war sie wie vom Erdboden verschluckt und weder über Messenger-Dienste noch Telefon erreichbar.
Wenige Tage später kam dieser Mann zu seiner regulären Therapiesitzung. „Er war stark verletzt und hochgradig irritiert“, erzählt Andreas Pichler. „Dieser Fall hat mir gezeigt, wie gewaltvoll Ghosting ist. Es hat viel Zeit gekostet, das wieder aufzuarbeiten.“
Je intimer die Beziehung war, desto schlimmer sind die Verletzungen
Ghosting kann in jeder Form von Beziehung auftreten, auf romantischer und freundschaftlicher Ebene, genauso wie im Berufsleben. Oft gibt es – anders als im Fallbeispiel – nicht mal eine Abschieds-SMS, die Person verschwindet einfach so. Klar ist aber: Je enger und intimer die Beziehung war, je länger sie andauerte, desto verletzter ist das Opfer.
Und: „Es hängt auch viel davon ab, auf welchen Nährboden das fällt“, sagt Andreas Pichler. „Jemand, der ein großes Selbstvertrauen hat, reagiert mit Wut und Enttäuschung, kann das aber irgendwie verarbeiten. Aber Menschen, die sowieso schon unsicher sind, bringt das stark unter Stress.“
Im Vergleich zu einer „normalen“ Trennung, bei der es ein Gespräch gibt, sei Ghosting viel „krasser und rabiater“, sagt Andreas Pichler. „Bei einer herkömmlichen Trennung ist man im Dialog und erfährt Gründe – die sind zwar meist nicht schön, aber sie geben dem Menschen die Möglichkeit, sich mit der Trennung auseinanderzusetzen und sie zu bewältigen.
Opfer suchen die Gründe allein bei sich selbst
Beim Ghosting gibt es keine Auseinandersetzung, deswegen ist der Prozess des Verarbeitens viel schwieriger.“ Denn die Phantasie ist in dem Fall ein schlechter Berater.
Die Opfer suchen die Gründe allein bei sich selbst: Habe ich zu viel geklammert? Bin ich nicht hübsch genug? Hätte ich meine eigenen Interessen mehr zurückstellen sollen? Doch Antworten auf diese Fragen wird es niemals geben. Ein Zustand, der für unser Gehirn nur schwer auszuhalten ist. „Trotzdem müssen die Menschen irgendwie versuchen sich zu schützen“, sagt Andreas Pichler.
Er rät, sich mit Freunden und Familie zu treffen und sich analog (!) abzusichern, dass es Menschen gibt, denen man wichtig ist. Und dann müsse man versuchen, diese schwere Trennungserfahrung aufzuarbeiten.
Haben Ghoster eigentlich ein schlechtes Gewissen?
Doch wenn das Ghosting gar nicht so viel mit dem Geghosteten zu tun hat – womit hat es dann zu tun? Das wollten auch Professor Jörg Matthes und sein Team vom Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien wissen. Sie haben sich in ihrer Studie aus dem Jahr 2023 erstmals damit beschäftigt, warum Menschen ghosten und wie es ihnen damit geht.
Da drängt sich gleich eine Frage auf: Haben die Ghoster gar kein schlechtes Gewissen? „Nein“, sagt Jörg Matthes. „Darauf weisen die Studien nicht hin.“ Das Ghosten sei – aus subjektiver Sicht – eine Art Problemlösung: Hier ist etwas, das ich nicht möchte oder das mich potenziell belastet. Ich ignoriere es – Problem gelöst. „Hinzu kommt, dass der Ghoster die ablehnende Botschaft nicht direkt ausspricht, er lässt den finalen Schlussstrich offen und man sieht die Reaktion des Gegenübers nicht. Daher ist schlechtes Gewissen unwahrscheinlich“, erklärt der Kommunikationswissenschaftler.
Ghosting ist ein Phänomen der digitalen Kommunikation
Das macht Ghosting zu einem klassischen Phänomen der digitalen Kommunikation – wie es auch aus anderen Bereichen bekannt ist. Beispiel: Auf dem Flohmarkt würde man dem Verkäufer ja auch nicht direkt sagen, wie hässlich seine Sachen sind, oder ihn mitten in der Verhandlung stehen lassen. Bei digitalen Secondhand-Plattformen passiert das durchaus. Denn in der digitalen Kommunikation sind wir der nonverbalen Reaktion des Gegenübers nicht ausgesetzt.
Wir sehen weder die Enttäuschung im Gesicht noch die Tränen in den Augen, hören nicht die erstickte Stimme. „Wenn Menschen ghosten“, erklärt Jörg Matthes, „geht es oftmals darum, unangenehme Interaktionen zu vermeiden, also sich einem bestimmten Thema oder Schritt in einer sozialen Beziehung nicht zu stellen. Zum Beispiel, wenn man etwas sagen müsste, was man nicht sagen will oder sich nicht zu sagen traut. Das kann Konfliktvermeidung sein oder die Angst, andere zu verletzen.“
Ghosting gibt es auch im Job
Immer häufiger passiert es, dass Bewerberinnen und Bewerber während des Bewerbungsprozesses plötzlich und ohne Erklärung nicht mehr erreichbar sind. Im Jahr 2022 veröffentlichte das Marktforschungsinstitut Appinio eine Umfrage, die unter 400 Personalerinnen und Personalern in Deutschland durchgeführt wurde. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, dass das Ghosting im Bewerbungsprozess im vergangenen Jahr häufiger geworden sei. Etwa ein Viertel gab an, es mindestens einmal pro Woche zu erleben, bei fast jedem Zehnten (acht Prozent) passierte es sogar täglich.
Ghosting hat sich verstärkt, weil viele Beziehungen so unverbindlich sind
Ein anderer Grund für das Ghosten sei, dass man schlicht das Interesse an einer Person verloren habe – oder mit zu vielen Informationen und Interaktionen überladen sei, sodass man nicht mehr zum Antworten komme. In Fachkreisen heißt das „information overload“, Informationsüberlastung. Ein Phänomen, das auch dadurch zustande kommt, dass wir nicht mehr zehn gute Freunde haben, sondern 100, 500 oder 1000 Follower.
„Ghosting hat sich auch dadurch verstärkt, dass viele Beziehungen in den sozialen Medien so unverbindlich sind“, sagt Jörg Matthes. Denn wir sind zwar nicht mit all diesen Menschen über Messengerdienste in Kontakt. Aber wir chatten doch mit mehr Personen, als wir in echt jemals treffen können. „Zudem besteht ein gewisser Druck, Nachrichten auf den sozialen Medien sofort zu lesen und auch sofort zu antworten“, sagt Jörg Matthes.
Der Stress mit digitalen Nachrichten führt bei manchem zum Abbruch
Psychologe Andreas Pichler beobachtet diese Entwicklung mit Sorge. „Ständig blinkt das Smartphone, das setzt uns unter Strom, lenkt uns ab, stört die Konzentration. Den ganzen Tag in Erwartung von digitalen Nachrichten zu sein, kostet viel Energie.“ Sich dem zu entziehen, brauche viel Souveränität. Denn im Hintergrund lauert die Angst, etwas zu verpassen, nicht mitreden zu können und ins Abseits zu geraten. Dieses Phänomen ist auch unter der Abkürzung „FOMO“ bekannt: Fear of missing out.
„Deswegen lesen und beantworten die meisten Menschen dann doch alle Nachrichten direkt, um einer möglichen Beschämungssituation aus dem Weg zu gehen“, so der Psychologe. Für den ein oder anderen Menschen kann das aber irgendwann zu viel werden. Er oder sie fühlt sich überlastet – und antwortet einfach gar nicht mehr. Wer einmal anfange, die Menge an Kommunikation zu regulieren, indem er oder sie ghoste, und damit Erfolg habe – der werde es in Zukunft wohl auch wieder tun. Auf diese Weise wird Ghosting zu einem gelernten Verhalten.
Steckt hinter Ghosting eine psychische Störung?
Andreas Pichler rät jedoch dringend davon ab, hinter jeder Ghosting-Attacke eine psychische Störung zu vermuten. Dafür sei dieses Verhalten mittlerweile viel zu alltäglich. „Ich sehe Ghosting aber schon als eine Störung von Beziehungs- und Kontaktgestaltung. Wer ghostet, ist mindestens unhöflich und respektlos. Und er oder sie hat verlernt empathisch zu sein – und zu sehen, wie verletzend das Verhalten für das Gegenüber ist“, sagt der Psychologe.
Was dagegen vielleicht helfen würde: Sich öfter mal wieder in echt zu treffen, zum Fußballspielen, Konzertgucken oder Essen gehen. Sich miteinander zu unterhalten, dem anderen dabei ins Gesicht zu schauen, die nonverbale Kommunikation zu genießen. Und das Handy in der Tasche zu lassen. Am besten auf lautlos.
Quellen
- Kontakt Prof. Jörg Matthes: https://publizistik.univie.ac.at/institut/mitarbeiterinnen-mitarbeiter/vorstand/matthes-joerg/
- Kontakt Andreas Pichler: https://www.psychotherapie-stieldorf.de/
- Ghosting-Ambulanz: https://anja-wermann.de/angebot/ghosting-ambulanz/
- Studie Appinio: https://research.appinio.com/#/de/survey/public/cKNU4yjz7
- Studie Pew Reserach Center
- Studie Uni Wien
Jörg Matthes
Experte
Professor am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien.
Andreas Pichler
Experte
Psychologischer Psychotherapeut.