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Wie Märchen unser Leben besser machen können
Eigentlich hatte man den Kindern den Märchenfilm ja angemacht, um schnell noch was im Haushalt zu erledigen. Doch irgendwie bleibt man dann doch vor dem Fernseher hängen. Die Geschichten von Aschenputtel, Rumpelstilzchen und Sterntaler wecken Erinnerungen in uns – und ziehen uns in ihren Bann. Und dabei sind sie doch oft schon hunderte von Jahren alt! Warum fesseln sie uns heute noch? Und wie können sie uns helfen, unser Leben besser zu machen?
„Ursprünglich waren Märchen nicht nur für Kinder, sondern auch als Unterhaltung für Erwachsene gedacht“, sagt Dr. Teresa Kaya. Sie ist Professorin für Soziale Arbeit an der Fresenius Hochschule in Heidelberg und (Lehr-)Trainerin für Biografiearbeit. Märchen sind meist uralte Geschichten, die von Generation zu Generation erzählt wurden und eigentlich gar nicht für die Schriftsprache gedacht waren.
Die Gebrüder Grimm sammelten diese Erzählungen, ursprünglich aus einem volkskundlichen Interesse heraus, und veröffentlichen sie von 1812 bis 1858 als „Kinder- und Hausmärchen“. Die darin versammelten 200 Märchen bestimmen noch heute den Literatur-Kanon dieses Genres – vor allem in Deutschland.
„Hänsel und Gretel“ gehört zu den bekanntesten Märchen bei Kindern
Eine repräsentative Studie aus dem Jahr 2015 ging der Frage nach, welche Märchen Kinder im Alter zwischen drei und 13 Jahren kennen. Die meisten konnten gleich mehrere Märchen aufzählen, durchschnittlich waren es fünf Stück. 53 Prozent nannten „Hänsel und Gretel“, gefolgt von „Rotkäppchen“ (45 Prozent), „Aschenputtel“ (41 Prozent) und „Schneewittchen“ (39 Prozent).
„Auf den ersten zehn Plätzen finden sich ausschließlich Märchen der Gebrüder Grimm, was die herausragende Bedeutung dieser Autoren für das Märchenverständnis von Kindern bestätigt“, fasst die Medienwissenschaftlerin Dr. Maya Götz die Studie des „Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen“ (IZI) zusammen. „Viele von uns begleiten Märchen von klein auf“, sagt Teresa Kaya.
Doch für eine gewisse Zeit war das anders: In den 1960er Jahren gab es eine Debatte darüber, ob Märchen nicht zu grausam für Kinder seien. Sie führte zu einer Anti-Märchen-Stimmung und der zeitweiligen Verbannung ebenjener Bücher aus den Kinderzimmern. Eine Kehrtwende gelang, als Bruno Bettelheim in den 1970er Jahren sein Buch „Kinder brauchen Märchen“ veröffentlichte. Hier arbeitet der Autor aus psychoanalytischer Sicht heraus, warum Märchen für Kinder sogar eine tröstende und stärkende Wirkung haben können.
Kinder können von Märchen sogar profitieren
Teresa Kaya sagt heute: „Die aktuelle wissenschaftliche Lage zeigt, dass Märchen Kindern nicht schaden, sondern sie sogar davon profitieren können. Wichtig ist, dass sie bei der Reflexion nicht allein gelassen werden“. Dass sie das Märchen also mit den Eltern gemeinsam lesen und auch über den Inhalt sprechen können. Und, darauf weisen verschiedene Expertinnen und Experten hin: Es macht einen Unterschied, ob Kinder das Märchen vorgelesen beziehungsweise erzählt bekommen – oder ob sie dessen teils grausame Szenen (denken wir nur an Hänsel im Käfig) als Bild, Illustration oder Film sehen.
Denn Märchen fanden und finden Eingang in die unterschiedlichsten Richtungen der Künste, nicht nur ins Bild, sondern auch in Theater und Tanz. Und mit ihrer universellen Bekanntheit eignen sie sich auch hervorragend für die Welt des Marketings und der Werbung. Selbst in therapeutischen Behandlungen werden sie eingesetzt. Professorin Teresa Kaya hat gute Erfahrungen beim Einsatz von Märchen in der Biografiearbeit gesammelt und dazu gemeinsam mit ihrem Kollegen Hans Kahlau ein Praxishandbuch geschrieben: „Lebendige Biografiearbeit mit Märchen“ heißt es.
In der Biografiearbeit wird der Fokus auf die Stärken gelegt
Doch nun zunächst ein kurzer Exkurs, denn: Was ist Biografiearbeit überhaupt? „Biografiearbeit ist die professionell angeleitete Beschäftigung mit dem eigenen Lebensweg“, erklärt Kaya. Es gehe darum, die Vergangenheit aufzuarbeiten, Anschlusspunkte in der Gegenwart zu finden und Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. „Wir legen den Fokus auf die Stärken. Wir wollen neben dem Raum für Trauer, Angst und Wut die Dinge hervorheben, die uns eine schwierige Situation haben meistern lassen.“
Aber wie passen Märchen da herein? „Märchen können Erwachsene sehr schnell in die Vergangenheit bringen“, erklärt Kaya. „Wenn sie ein Märchen hören, das sie von klein auf kennen, können sie an die Gefühle von damals anknüpfen.“ In ihrem Buch geben die beiden Autoren Impulse für die Biografiearbeit mit zehn unterschiedlichen Märchen.
„Aschenputtel“ etwa sei unter anderem gut geeignet, um sich mit den Themen Trauer und Hoffnung zu beschäftigen. Folgende Fragen könne man sich stellen: Wie wurde in meiner Familie getrauert? In welchen hoffnungslosen Momenten fand ich Hoffnung? Durch wen oder was? „Aber man beantwortet nicht nur kognitiv Fragen, es geht auch darum, in Schreibübungen oder Rollenspielen kreativ zu werden und so nochmal einen anderen Zugang zu seinen Gefühlen zu bekommen.“
Was ist Biografiearbeit?
Biografiearbeit ist eine Handlungsmethode in der Sozialen Arbeit. Die Märchen sind nur ein Instrument. Auch andere Geschichten, Songtexte, Gedichte oder Filme werden in der Biografiearbeit genutzt. Die Methode wird schon lange in der Altenhilfe eingesetzt und konnte vor allem bei Demenzkranken große Erfolge erzielen. Seit einigen Jahren wird Biografiearbeit auch in der Familienhilfe eingesetzt, etwa, wenn Familien Kinder adoptieren oder Pflegekinder aufnehmen.
Biografiearbeit könne aber auch im persönlichen Bereich genutzt werden, sagt Teresa Kaya. Vor allem dann, wenn man vor Übergängen im Leben steht: der Geburt eines Kindes, ein neuer Job, der Eintritt in die Rente. Im Unterschied zu einer Psychotherapie steht am Anfang der Biografiearbeit keine psychische Krankheit und am Ende keine Heilung. „Es geht darum, die Vergangenheit zu sortieren, sodass man gefestigt in die Zukunft geht und stimmige Entscheidungen treffen kann“, sagt Kaya. Klassischerweise wird während der Biografiearbeit eine Art Tagebuch geführt, genannt „Lebensbuch“.
Wer Lust hat, Biografiearbeit auszuprobieren, kann sich in Familienzentren oder Bildungszentren für Erwachsene (etwa bei der Volkshochschule) nach Kursen erkundigen. Manche Coaches oder Trainer bieten auch individuelle Biografiearbeit an. Zwei Fachgesellschaften informieren weiter: „LebensMutig – Gesellschaft für Biografiearbeit“ und „FaBia – Fachverband für Biografiearbeit“.
„Prinzessin auf der Erbse“ hilft, das eigene Rollenbild zu reflektieren
Auch in ihren Hochschul-Seminaren arbeitet Kaya mit Märchen. Beim Thema Genderbiografie beispielsweise teilt sie ihre Studierenden nach Geschlechtern auf: Die Männer bearbeiten das Märchen „Eisenhans“, die Frauen „Die Prinzessin auf der Erbse“. Es gehe dann darum, anhand dieser Geschichten und der Figuren das eigene Rollenbild zu reflektieren, herauszufinden, welche Frauen und Männer einen in der Vergangenheit geprägt haben, aber auch darum, von welchen Eigenschaften man sich distanzieren möchte.
„Die Studierenden berichten häufig von Aha-Momenten und dass sie sich selbst und ihr Gegenüber plötzlich in einem ganz anderen Licht sehen.“ Die Idee ist, dass die Studierenden das Gelernte später auf Fälle in der Sozialen Arbeit beziehen können, etwa einen Fall der häuslichen Gewalt. „Durch die Märchen können die Studierenden neue Perspektiven einnehmen und gegebenenfalls auftretende Triggerpunkte identifizieren. Dieses Wissen kann ihnen dann bei ihrer späteren Arbeit helfen“, sagt Teresa Kaya.
Auch in der Psychotherapie kommen Märchen zum Einsatz
Manche Psychologinnen und Psychologen arbeiten in der Therapie ebenfalls mit Märchen – sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen. Die Idee ist, dass die Patientinnen und Patienten ein Märchen bearbeiten und das daraus Gelernte dann auf ihre eigene Situation übertragen können.
Die US-Amerikanerin Lauren Slater hat sich dafür sogar selbst Märchen ausgedacht. Einige davon hat sie in einem Sammelband namens „Erwachsene brauchen Märchen“ veröffentlicht. Im Vorwort schreibt sie: „Als Therapeutin habe ich Märchen für meine Patienten geschrieben, Geschichten, in denen sich ihre Konflikte spiegelten. Und dann bat ich sie, verschiedene Enden dafür zu finden oder eine Figur zu nehmen und mit ihr einen schriftlichen Dialog über die Geschichte zu führen oder einen Brief an eine Figur zu schreiben, an den Wolf oder an Hänsel in seinem Käfig.“
Der große Vorteil: Märchen bringen uns zurück in die eigene Kindheit
Sie erklärt, dass Erwachsene – ebenso wie Kinder – Märchen bräuchten, da sie ihnen die Möglichkeit gäben, Ängste zu meistern, Suchtverlangen in den Griff zu bekommen und sich mit einer moralischen Instanz zu konfrontieren. „Zwar finden Erwachsene solche Themen auch in den komplexeren Zusammenhängen von Romanen, Erzählungen und Essays, doch die starke Polarität der Märchenfiguren mit ihrer zutiefst sinnträchtigen Natur erinnert uns an unsere Kindheit. Und da wir somit an jenen Ort zurückkehren, an dem die Probleme häufig begannen, können diese Geschichten besonders wirksame therapeutische Instrumente sein.“
In der Biografiearbeit funktioniere es deswegen besonders gut, wenn Erwachsene das Märchen bereits als Kind kannten, erklärt Teresa Kaya. „Es gibt dann mehr Möglichkeiten, zu reflektieren. Wenn ich mich zum Beispiel daran erinnere, dass ich mich bei ‚Hänsel und Gretel‘ besonders gegruselt habe, kann ich das als Erwachsener neu deuten und mich fragen: Was hat mir damals so Angst gemacht und warum?“ Doch selbst, wenn der Erwachsene das Märchen nicht kenne, funktioniere die Biografiearbeit: „Märchen befassen sich mit zeitlosen Themen und durch die immer gleichen literarischen Mittel wirken auch neue Geschichten direkt vertraut.“
Diese Stilmittel charakterisieren ein Märchen
Schließlich entführt jedes Märchen mit der Floskel „Es war einmal“ in die fantastische Welt der Erzählung, es gibt eine klassische Schwarzmalerei und am Ende warten auf die Bösen harte Strafen, während den Guten absolutes Lebensglück zuteilwird. Ganz zentral für Märchen ist auch die Moral, die teils auf dem Goldtablett serviert wird. Denken wir nur an Frau Holle und das Thema Fleiß: Denn das gute und hilfsbereite Mädchen wird auf dem Weg nach Hause mit Goldregen belohnt, das faule und unfreundliche mit Pech.
Am wichtigsten aber sind wohl die archetypischen Motive, die sich in Märchen tummeln, findet Teresa Kaya. „Da geht es um Tod, Trauer, Neid, Liebe und Glück – grundlegende Dinge, die jeden Menschen beschäftigen und uns über Generationen und sogar Kulturkreise hinweg miteinander verbinden.“ Tatsächlich existieren viele der uns bekannten Märchen in ähnlicher Form auch in anderen Regionen der Welt. „Märchen bieten den Menschen einen Anschlusspunkt und die Möglichkeit, sich über die großen Themen des Lebens auszutauschen, ganz unabhängig von politischen Haltungen und Einstellungen. Sie vereinen uns.“
In diesem Sinne: Vergessen Sie den Haushalt für eine Weile, genießen Sie ein gutes Märchen – und tauchen nochmal ganz tief in die Vergangenheit ein.
Quellen
- Interview mit Teresa Kaya: https://takkaya.de/
- Praxisbuch Lebendige Biografiearbeit mit Märchen von Hans Kahlau und Teresa A. K. Kaya
- Buch: Erwachsene brauchen Märchen: Magische Geschichten, die helfen, Konflikte und Alltagsängste zu überwinden von Lauren Slater
- Aschenputtel ist das beliebteste Märchen bei Mädchen – Hänsel und Gretel bei Jungen
Dr. Teresa Kaya
Experte
Professorin für Soziale Arbeit an der Fresenius Hochschule in Heidelberg und (Lehr-)Trainerin für Biografiearbeit