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Weniger Sorge der Eltern stärkt die Kinder

Auf der Straße spielen, bis die Laternen angehen, ohne Helm durch den Wald zur Schule radeln, selbstverständlich ohne Smartphone, höchstens mit 20 Pfennig für die Telefonzelle in der Tasche. Das wäre heute in der Erziehung undenkbar. Einige Mütter und Väter mutieren gar zu sogenannten Helikopter-Eltern. Sie kutschieren ihren Nachwuchs zur Schule und beschützen ihn, wo es nur geht. Warum mehr Vertrauen in der Erziehung oft wichtiger wäre.

Eltern in Deutschland machen sich große Sorgen um ihre Kinder. Das belegt eine ganze Armada an Sorgenstudien. Wissenschaftlich begleitete Albträume gewissermaßen: Familienmonitor 2023, Bepanthen-Kinderförderung 2021, „Familien in der Krise“. In allen Untersuchungen kann man nachlesen, wie es um den Alarmmodus in den Elternköpfen bestellt ist.

„In allen Untersuchungen kann man nachlesen, wie es um den Alarmmodus in den Elternköpfen bestellt ist.”

Zur Angst vor Unfällen und Krankheiten, die quasi im eigenen Haushalt, in jedem Werkzeugkasten, im Putzmittelschrank, auf Balkonbrüstungen und selbstverständlich an jeder Kreuzung im Stadtteil wohnt, kommen globale Anlässe zum Besorgtsein: Schulbildung, Staatsschulden, Wohlstandsverlust, eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft, Umweltverschmutzung, Leistungsdruck, Klimawandel, Diskriminierung, Pandemien, Arbeitslosigkeit, Einsamkeit, Armut. 

Und die schrillenden Glocken sind lauter geworden. Die Corona-Pandemie als „kollektive Krisenerfahrung“, auch das legen die Studien nahe, könnte als eine Art Brandbeschleuniger für Elternängste gewirkt haben.

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Gerade Mütter trifft die Sorge um den Nachwuchs oft übertrieben stark

Forscher wissen: Angst ist generell ein gesundes Gefühl. Sie bewahrt uns davor, uns und unsere Liebsten ständig in gefährliche Situationen zu bringen. Aber gerade Mütter trifft sie manchmal übertrieben hart, wenn sie im Schlepptau des Beschützerinstinkts wie ein Bulldozer angerast kommt. Mehr als die Hälfte aller Mütter ist laut Studien nach eigenen Angaben „übervorsichtig“ mit den eigenen Kindern. Jede Dritte hat gar Angst, der pausbäckige Nachwuchs könnte entführt werden.

Niemand muss aber glauben, dass sich die Sorge nur auf die Kleinkindjahre beschränkt. Einer im Wissenschaftsmagazin „The Gerontologist“ veröffentlichten Studie zufolge grübeln Eltern auch noch Jahre, nachdem die Kinder ausgezogen sind, nächtelang darüber, ob sie gesund von der Party heimkommen, die Urlaubsreise überleben oder mit den Herausforderungen im Job oder der eigenen Familie klarkommen. Auch ich bange noch um den erwachsenen Teil meines Nachwuchses.

„Soziologen wie der englische Buchautor Frank Furedi sprechen inzwischen schon von einer „Elternparanoia".”

Soziologen wie der englische Buchautor Frank Furedi sprechen inzwischen schon von einer „Elternparanoia“. Andere haben die „Generation Rücksitz“ ausgerufen. Sie stellten fest, dass der sogenannte Streifradius von Grundschulkindern – also das Gebiet, das sie selbstständig entdecken können – binnen weniger Jahrzehnte von 20 auf vier Kilometer geschrumpft ist. Denn: Alleine Draußensein gilt vielen Eltern heute als viel zu gefährlich. Ohne Handy-Ortung komplett unverantwortlich. Also wird mit dem Auto chauffiert.

Ist die Welt für Kinder gefährlicher geworden?

Experten sind sich uneins, ob die Gefahren für Kinder im Vergleich zu früher zugenommen haben. Einerseits ist da die Weiterentwicklung von Vorsichtsmaßnahmen, sowohl im Straßenverkehr als auch im generellen Kinderschutz. Die Jüngsten fahren heute mit Gurt Auto, mit Helm Fahrrad, aber auch die Sensibilität gegenüber sexuellem Missbrauch in Institutionen ist gestiegen.

Andererseits „hat die Mobilität generell zugenommen“, wendet Prof. Stephan Bender ein, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Uniklinik Köln. Das Kind begegnet auf dem Schulweg also häufiger einem heranbrausenden Auto als früher.

„Früher war ein Dorf eine Caring Community. Da konnte man sich eher darauf verlassen, dass […] alle irgendwie aufeinander aufgepasst haben.”
Prof. Stephan Bender

Und auch das Sicherheitsnetz, das eine funktionierende Nachbarschaft für Kinder bieten kann, ist löchriger geworden. „Früher war so ein Dorf eine Caring Community. Da konnte man sich eher darauf verlassen, dass bis acht Uhr abends alle irgendwie aufeinander aufgepasst haben“, sagt Bender. Heute führe der straffe Zeitplan vieler berufstätiger Eltern zu weniger Gemeinschaft und mehr Anonymität.

„Besorgnis ist Gift für das Selbstwertgefühl des Kindes. Sie ist eine Misstrauenserklärung.”
Jesper Juul

Besorgnis ist Gift für das Selbstwertgefühl des Kindes

Trotz aller tatsächlich vorhandenen Risiken: Gutes tun wir unseren Kindern mit all den Vorsichtsmaßnahmen nicht. Ängste der Mütter, das zeigen Studien, verstärken auch die Ängste der Kinder. „Besorgnis ist Gift für das Selbstwertgefühl des Kindes. Sie ist eine Misstrauenserklärung“, sagte der große Kinderpsychologe Jesper Juul. Umschiffen wir mit anstrengenden Wendemanövern auf hoher See jedes auch noch so kleine Risiko, das dem eigenen Nachwuchs begegnen könnte, lernt er nicht zu scheitern – und nach dem Tränentrocknen daran zu wachsen.

„Im Jugendalter beobachten wir gerade bei besonders umsorgten Kindern, die wenig Freiheiten genießen konnten, als Reaktion auf diese einengenden Verhältnisse ein besonders hoch ausgeprägtes Risikoverhalten.”
Prof. Stephan Bender

„Krisenklau“ nennt das die Kölner Professorin Sigrid Tschöpe-Scheffler in ihrem Buch „Perfekte Eltern und funktionierende Kinder?“. Im schlimmsten Fall, sagt der Experte Stephan Bender, könne eine Überbehütung durch sogenannte Helikopter-Eltern gar Verhaltensauffälligkeiten erzeugen. „Im Jugendalter beobachten wir gerade bei besonders umsorgten Kindern, die wenig Freiheiten genießen konnten, als Reaktion auf diese einengenden Verhältnisse ein besonders hoch ausgeprägtes Risikoverhalten.“

Da kommt es dann schon mal vor, dass der überbehütete Tom, der noch mit 14 Jahren nicht alleine mit dem Rad zur Schule um die Ecke fahren durfte, mit 16 Jahren nachts auf wackligen Balken an Baustellen rumturnt. Quasi zur Kompensation. Laut Psychologen wie Peter Gray, Professor am Boston College, steht die elterliche Intensivbetreuung, die in den USA besonders um sich greift, gar im Zusammenhang mit einer markanten Zunahme an psychischen Störungen und Suiziden im Kindes- und Jugendalter. Bender rät Eltern deshalb, ihren Kindern schon von klein auf eigene Erfahrungen und damit auch eine Entwicklung zu ermöglichen.

Falls Ihr Kind gerade die turbulente Phase der Pubertät durchläuft, bietet unser Artikel "Pubertät: Wenn die Hormone verrückt spielen" hilfreiche Ratschläge für Eltern.

Wie viel Risiko ist angemessen?

Nach Benders Meinung müsse es bei der Erziehung immer darum gehen, Risiken vernünftig abzuschätzen. Eltern müssten lernen, dass sie ihre Kinder nicht vor allen Gefahren beschützen können, und ihre „Versicherungsmentalität“ ablegen. „Kleinere Blessuren müssen Kinder auch mal wegstecken. Das bedeutet: Auf einen nicht allzu hohen Baum sollten sie sie ruhig klettern lassen.“ Kommt das Kind heil wieder runter, wird es stolz sein und sein Selbstwertgefühl gestärkt haben.

Aber auch, wenn es stürzt, gibt es einen Lerneffekt: „Es hat dann erfahren, wo seine Grenzen sind, wo es künftig besser aufpassen muss, dass Dinge eben auch schiefgehen können und nicht immer alles klappt wie beim Superhelden im Film.“

„In Ländern, wo die soziale Schere sich immer weiter öffnet, fürchten Eltern, dass ihre Kinder den Anschluss verlieren könnten und schicken sie lieber zur Nachhilfe.”

Abstiegsangst führt zur Überbehütung und Intensivbetreuung

Zuweilen ist die Intensivbetreuung von Helikopter-Eltern auch Abbild der Gesellschaft, in der sie leben. In Ländern, wo die soziale Schere zwischen Arm und Reich sich immer weiter öffnet, so belegen Studien, neigen Eltern eher zur Überförderung. Sie fürchten, dass ihre Kinder den Anschluss verlieren könnten, und schicken sie deshalb aus Abstiegsangst lieber zur Nachhilfe, als sie nachmittags auf der Straße mit Freunden vom Leben lernen zu lassen.

Bender findet das nicht unbedingt effektiv. „Die Frage ist, womit fördere ich mein Kind tatsächlich? Aus meiner Sicht ist es wichtiger, ihm auch mal die Erfahrung des Scheiterns nicht zu ersparen, statt es zum fünften Musikkurs anzumelden.“

Handeln hilft Eltern und Kindern

Sowohl für ängstliche Eltern als auch für gefährdete Kinder gilt Experten zufolge übrigens: Handeln könnte weiterhelfen. Wer sich davor fürchtet, der Klimawandel könnte die Zukunft der Kinder bedrohen, wird mit Grübeleien und Sorgenfalten wenig ausrichten können. Mit dem Vorbild, dass man Erledigungen und Schulwege per Fahrrad statt mit dem Auto zurücklegen kann, schon eher.

Wem Nachrichten von weltweiten Krisen und Kriegen zusetzen, der tut gut daran, einen Flohmarkt zu veranstalten und das für die alte Carrerabahn eingenommene Geld an eine Hilfsorganisation zu spenden. Mal bei den Tafeln zu hospitieren. Die eigenen Kinder ermutigen, sich bei der Feuerwehr oder in der Nachbarschaftshilfe zu engagieren. Konflikte gewaltfrei zu lösen. Denn nichts hilft so gut gegen die Angst wie das Gefühl, selbst etwas zur Verbesserung der Lage beitragen zu können.

Es ist dennoch wichtig, als Eltern klare Grenzen zu setzen. Mehr dazu erfahren Sie in unserem Artikel „Kindern Grenzen setzen: „Eltern sind Sparringspartner““.

Claudia Lehnen

Autorin

Claudia Lehnen wollte als Jugendliche Ärztin werden, entschied sich dann aber dafür, lieber über Medizin und Menschen und ihre Krankheits- und Genesungsgeschichten zu berichten. Die in Köln niedergelassene Journalistin, die im Tageszeitungs-Journalismus zu Hause ist, ist unter anderem auf das Themengebiet Gesundheit spezialisiert.