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Mit Beinprothese in Bewegung bleiben – Lernen von „Blade-Jumper“ Markus Rehm
Ein Bein zu verlieren ist ein dramatisches Ereignis. Aber die Technik wird immer besser, sodass für Prothesenträger heute vieles möglich ist. Sie können sogar Spitzensportler werden. Der weltbeste Weitspringer mit Unterschenkelprothese, Markus Rehm, nennt sich „Blade-Jumper“. Und nutzt seine Erfahrungen, um als Orthopädietechniker auch weniger aktiven Menschen Prothesen zu bauen, die ihnen das Leben erleichtern.
Auf den neuen Fuß ist Markus Rehm sehr stolz, denn er ist badeschlappentauglich. Und das ist keine Selbstverständlichkeit. Seit er mit 14 Jahren bei einem Wakeboard-Unfall seinen rechten Unterschenkel verlor, konnte Rehm nicht mehr mit diesen einfachen Plastiksandalen an den Füßen am Strand entlang schlendern – oder den Müll rausbringen.
Selbst mit den hochmodernen, Tausende Euro teuren Prothesen von heute, die nichts mehr gemein haben mit den einstigen Holzstelzen der Piraten oder Erste-Weltkriegs-Veteranen, funktioniert das nicht. Es ist, als gebe es in einem Tesla der neuesten Generation keine Möglichkeit mehr, irgendwo seinen Kaffeebecher abzustellen. Das gefiel Rehm nicht.
Ein gesunder Fuß krallt sich bei jedem Schritt leicht an so einem Schlappen fest, doch der gefühllose Prothesenfuß kann das nicht. Der Schlappen fällt ab und der Träger kann nichts dagegen tun. Fester Schuh hier und Badeschlappen dort ist auch keine Lösung. Zwei ungleiche Schuhe verursachen einen unrunden Gang, das ist mit zwei gesunden Beinen ja nicht anders. Also hieß es für Rehm seit gut 20 Jahren: Beide Füße müssen in geschlossene Schuhe.
Paralympicssieger und Orthopädietechnik-Meister
Doch der 35-Jährige ist Tüftler und Perfektionist. Er arbeitet als Orthopädietechnik-Meister bei einem Sanitätshaus mit eigener Orthopädietechnik und ist zudem einer der beeindruckendsten Athleten auf der paralympischen Bühne. Seit Jahren gewinnt er als Weitspringer alles, was es zu gewinnen gibt, und schraubt seinen Weltrekord stetig in die Höhe. Aktuell steht er bei 8,72 Metern. Für die Paralympischen Spiele in Paris hat sich Rehm, der für den TSV Bayer 04 Leverkusen startet, eine weitere Steigerung zum Ziel gesetzt.
Im Alltag ist Rehm nicht als Prothesenträger auszumachen: geschmeidiger Gang, durchtrainierter Körper, weiße Sneaker an beiden Füßen. Er muss seine Jeans schon ein wenig lupfen, um den Blick freizugeben auf einen Unterschenkelersatz, dessen Konstruktion die Bezeichnung „Holzbein“ längst überholt hat: hoch individuell angepasst, aus verschiedenartigem Kunststoff und Metall gefertigt, teils im 3D-Drucker, teils in handwerklicher Detailarbeit.
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Prothesenbau: analog und digital
Bei Rehms Arbeitgeber haben sie eine Werkstatt, in der ganz analog geklebt, gefeilt und geschraubt wird, da klingt und riecht es nach Handwerksarbeit. Und es gibt eine zweite, ein modern eingerichteter, stiller Raum, in der das Handwerk digital am Computerbildschirm passiert. Am Ende setzen die Mechaniker Bauteile aus beiden Welten je nach Bedarf und Nutzen für die Amputierten ganz individuell zusammen.
Beim Sport trägt Rehm futuristisch anmutende Wettkampf-Blades aus Carbon, damit ist er schnell wie der Wind und fliegt weiter als die allermeisten Menschen mit zwei gesunden Beinen. Das hat ihm die verstörende Diskussion eingebracht, inwieweit seine Prothese im Weitsprung wirklich ein Nachteil oder nicht doch vielmehr ein Vorteil sei. Mit den Alltags-Konstruktionen für Nicht-Sportler haben diese Blades wenig zu tun – mit ihnen nicht einfach umzufallen, ist schon eine Kunst.
Rehms neueste Entwicklung ist für jedermann und -frau gedacht und der Badeschlappen-Trick mutet denkbar einfach an: Im Fuß aus Kunststoff befindet sich an der Unterseite ein Loch, in das ein auf den Schuh geklebter Stift geklickt wird. Schon hält der Schlappen. Und – das macht die Neuerung auch für weniger sportliche Prothesenträger interessant – er lässt sich ganz einfach anziehen. Ohne Bücken. Ohne Schuhlöffel. Badelatschen einfach im Stehen einklicken.
Größere Sicherheit dank moderner Technik
Es gibt heute Prothesen mit Knie- und Fußgelenken, die elektronisch gesteuert werden, um ein maximal harmonisches Gangbild zu erreichen. Aber auch, um mit einer verbesserten Balance gerade für ältere Menschen die Sicherheit zu erhöhen. Und doch sind es manchmal vermeintliche Banalitäten, die Prothesenträgern das Leben schwer machen: die Sache mit den Schlappen. Oder Sand im Fuß, wenn dieser sich nicht so einfach vom Rest der Prothese abnehmen lässt. Das quietscht. Dann mangelnde Rutschfestigkeit in der Dusche. Dinge, die Rehm bei seiner neuen Prothese bedacht hat.
Aber auch Schweiß kann zum Problem werden. Der sammelt sich an heißen Tagen im Silikonüberzieher, der die Verbindung zwischen Stumpf und Prothese herstellt. Viel Schweiß bedeutet weniger Halt. „Dann verliere ich die Kontrolle“, sagt Rehm. Eine Lösung für dieses Problem hat er noch nicht gefunden.
Viele andere Sorgen kann er Betroffenen mit der Zusammenstellung einer individuellen Prothese nehmen. Ob Hobbysportler oder modebewusste High-Heels-Liebhaberin, ob alltagsmüder Senior oder begeisterte Schwimmerin: „Wenn die Leute mir aus ihrem Leben erzählen, läuft bei mir immer schon ein Film ab, was für eine Prothese wir am besten zusammenbauen.“
Immer weniger Amputationen in Deutschland
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Entwicklung hochfunktionaler Prothesen hierzulande immer bedeutender, da tausende amputierte Veteranen heimkehrten und wieder arbeitsfähig gemacht werden sollten.
Heute wird in Deutschland immer weniger amputiert. Krieg als Ursache fällt weitgehend weg. Zudem sind die Fahrgastzellen der Autos sicherer geworden, Unfälle, bei denen die Beine schwer eingequetscht werden, passieren immer seltener. Und die Behandlung von Patienten mit Durchblutungsstörungen, vor allem bei Diabetes, wird immer besser. „Wir können es heute sehr lang herauszögern, bis ein Bein fällt“, sagt Professor Axel Jubel, Chefarzt der Unfallchirurgie am Eduardus-Krankenhaus im Kölner Stadtteil Deutz.
Neben den Durchblutungsstörungen sind Unfälle und Krebserkrankungen die gängigsten Ursachen für Amputationen, die obere Extremität ist dabei weit weniger betroffen als die untere. Der klassische Unfall, der eine Amputation nach sich zieht, sei ein Sturz vom Motorrad in die Leitplanken, erklärt Jubel: „Dabei werden Extremitäten zum Teil inkomplett abgetrennt.“
Chirurgische Fachkompetenz geht verloren
Sinkende Fallzahlen klingen erst einmal gut – bergen aber ein Problem: Unter den Chirurgen geht die Fachkompetenz verloren. „Es gehört ein gewisses Know-how dazu, einen vernünftigen Stumpf zu bilden“, sagt Jubel. Das, was vom Bein übrigbleibt, sei es mit oder ohne Knie, muss die richtige Länge und Form haben, damit der Betroffene später mit möglichst wenig Problemen eine Prothese führen kann. „Deshalb ist es wichtig, dass Chirurg und Prothesenbauer in enger Absprache zusammenarbeiten“, so Jubel. Im Eduardus-Krankenhaus habe man deshalb eine eigene Orthopädietechnik.
Ferner ist es wichtig, dass nach der Prothesenanpassung eng mit Physiotherapeuten kooperiert wird, damit Betroffene den richtigen Umgang mit ihren Prothesen bestmöglich lernen.
Von Mitleid bis Ekel
Das wiederum ist nicht nur eine Frage der Geschicklichkeit und des körperlichen Trainings, sondern auch ein psychologischer Kraftakt. Markus Rehm erinnert sich gut an das furchtbare Gefühl, als er nach der Amputation aufwachte und auf die flach auf der Matratze liegende Bettdecke sah, wo einst sein Unterschenkel sie ausbeulte. Oder an den ersten Blick in den Spiegel. An die Reaktionen der Menschen, von übertriebenem Mitleid bis hin zu Ekel sei alles dabei gewesen, erzählt er: „Man hat in so einer Situation genug eigene Themen und muss dann auch noch lernen, mit dem Feedback von außen umzugehen.“
Heute würde Rehm seinen Unfall nicht ungeschehen machen, selbst wenn er könnte. Bei einer Kinder-Pressekonferenz sei er mal gefragt worden, ob er seine Medaillen gegen ein gesundes Bein eintauschen würde, erzählt der Weitspringer. Er habe kurz darüber nachgedacht und dann ganz klar mit „Nein“ geantwortet: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Leben cooler sein könnte, wenn das nicht passiert wäre.“ Der Sport spielt dabei natürlich eine große Rolle und Rehm empfiehlt jedem, so gut es geht in Bewegung zu bleiben – auch mit Prothese. Nicht jeder muss Paralympicssieger werden. Aber Sport steigert die Lebensqualität und das Selbstbewusstsein.
Sportartenfinder des Verbandes
Der Deutsche Behindertensportverband (DBS) bietet im Internet einen ausführlichen Sportartenfinder an. Dort können sich Menschen mit einer körperlichen Einschränkung – also auch Prothesenträger – über Möglichkeiten informieren, Sport zu treiben. Welche Sportarten sind möglich? Welche Vereine bieten Trainingsgruppen? Dabei geht es nicht immer gleich um Leistungssport, sondern erst einmal darum, in der Gruppe in Bewegung zu kommen.
Vor allem für Kinder kann es eine Amputation erträglicher machen, wenn sie entdecken, wie viel trotzdem noch möglich ist. Sie sind genauso bewegungshungrig wie alle anderen, stoßen mit ihren Prothesen aber an Grenzen. Da hilft die Gemeinschaft mit anderen Betroffenen, das Abgucken von denen, die schon länger eine Prothese tragen.
Eine der deutschen Hochburgen für paralympischen Sport ist Leverkusen. Vor allem für Athletinnen und Athleten mit Beinprothese ist der TSV Bayer Leverkusen eine Top-Adresse. Hier trainiert Markus Rehm. Aber zum Beispiel auch Prothesen-Sprinter Johannes Floors. Und es gibt Breitensport-Angebote für Kinder und Jugendliche.
Stolz auf die Sportprothese
Es ist nicht immer einfach für Familien, ein Sportangebot für ein Kind mit Prothese zu finden. „Wenn es aber gelingt, erleben sie eine solche Lebensfreude bei Kindern und Eltern“, sagt Friedhelm Julius Beucher, der Präsident des DBS. Er fordert deshalb von allen Klubs: „Macht die Kindergruppen auf!“ Berührungsängste sollten abgebaut und Breitensport inklusiv möglich gemacht werden.
Denn Sport hält nicht nur gesund, sondern stärkt das Vertrauen in den eigenen Körper. Abgesehen davon: Kinder sind genetisch auf Bewegung programmiert. Sie brauchen das. Egal, ob klein oder groß, mit ein oder zwei Beinen, normal entwickelt oder auch nicht.
Die Mutter einer Neunjährigen mit Beinprothese, die in Leverkusen zur Leichtathletik gefunden hat, erzählt: „Meine Tochter wollte immer, dass ihr Bein aussieht wie ein normales.“ Sie hat die Prothese unter Kleidung versteckt. Dann probierte sie in Leverkusen eine Sportprothese aus. Die sieht ähnlich aus wie die Prothesen der paralympischen Spitzensportler, eine Karbonfeder macht schnelles Rennen möglich. Das geht mit den steiferen Alltagsprothesen nicht. Die Neunjährige sei sofort begeistert gewesen, erzählt die Mutter. Und plötzlich musste das künstliche Bein nicht mehr versteckt werden. Das Mädchen trägt es mit Stolz.