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Stilles Glück
Um uns herum ist es laut. Nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation WHO spielt Lärm eine entscheidende Rolle im Reigen der gesundheitsgefährdenden Umwelteinflüsse in West-Europa. Wir sehnen uns immer öfter nach Ruhe, nach stillen Momenten im anstrengenden Alltag. Aber wo können wir sie finden? Wie viele brauchen wir? Und warum tun sie nicht jedem gut?
Die Kirchenglocken läuten zu Beginn des Telefonats mit dem Münchner Psychoakustiker Bernhard Seeber. Ihm gefällt das, sie gehören zum Klang seines Lebens. Wie bestimmte Verkehrsgeräusche, Schritte der Kollegen auf dem Flur, das Klingeln des Telefons im Nachbarbüro. Soundscape, zu Deutsch Klanglandschaft, nennt man die individuelle Akustik in einem Raum, einer Straße, einer Stadt.
Wenn wir Glück haben, leben und arbeiten wir an einem Ort, an dem wir den Soundscape als angenehm empfinden. Dann fühlen wir uns wohl, lassen uns von den Geräuschen um uns herum nicht stören. Im Gegenteil, diese gewohnten Klänge tragen zu unserem Wohlbefinden bei, sind eine Art akustische Heimat für uns. Vielleicht vermissen wir sie sogar, wenn wir auf Reisen sind.
Kirchenglocken sind aber nicht gleich Kirchenglocken. „In anderen Ländern bimmeln die ganz anders“, sagt Seeber. Dann empfinden wir ihren Klang vielleicht als störend und sehnen uns nach Stille. Das kommt in der heutigen Welt immer häufiger vor, hat meistens aber weniger mit den Glocken zu tun, die einst den Tagesablauf der Menschen regelten, als es noch keine Uhren und Mobiltelefone und insgesamt weniger Geräusche um uns herum gab.
Gesundheitsgefährdender Lärm
Heute reden wir und chatten, überall piepsen Handys und Computer, Musik oder Nachrichten schallen aus unzähligen Lautsprechern. Wir sind von Lärm umgeben, von zunehmendem Verkehrs- und Arbeitsstättenlärm, von Freizeitlärm oder Nachbarschaftslärm. Der Soundscape unseres modernen Alltags kann ganz schön zermürbend sein. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO ist Lärm ein bedeutender Faktor in West-Europa, er zählt zu den stark gesundheitsgefährdenden Umwelteinflüssen. Eine Millionen gesunder Lebensjahre gingen jedes Jahr auf Grund von Verkehrslärm verloren, heißt es in einem WHO-Bericht.
Nicht umsonst gebe es klare Lärmschutz-Verordnungen mit etwa Nachtflug-Verboten, sagt Psychoakustiker Seeber. „Wenn Leute nicht sauber durchschlafen können, fehlt die Erholung, und das macht nachweislich krank.“ Dadurch werde zwar nicht das Gehör geschädigt, aber die Rückwirkungen könnten Bluthochdruck und Nervosität auslösen und erhöhten so das Herzinfarkt-Risiko.
Um tatsächliche Schädigungen des Gehörs zu verhindern, gebe es die „Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm“ (TA Lärm), darin werde klar geregelt, wann etwa am Arbeitsplatz ein Hörschutz zu tragen ist. „Diese Vorschriften sollte man durchaus einhalten“, betont der Wissenschaftler, „vor allem impulsiver Lärm wie durch einen Presslufthammer ist gefährlich, das wird häufig unterschätzt“. Aber auch ständige Musik auf den Ohren per Kopfhörer, um wenig mitzubekommen von der Welt drumherum, könne zu einer Schädigung des Gehörs führen.
Physik und menschliche Wahrnehmung
Viele Menschen sehnen sich heute nach Stille. Nach äußerer Ruhe, um inneren Frieden zu finden. Bernhard Seeber ist es auch schon passiert, dass die angenehme Klanglandschaft an seinem Arbeitsplatz massiv gestört wurde. Eine Großbaustelle direkt nebenan brachte neue, unangenehme Laute ins Spiel. Anders als die meisten von uns musste Seeber sich aber nicht auf einen schneebedeckten Berggipfel wünschen, sondern konnte einfach von seinem Büro in den „Reflexionsarmen Raum“ der TU München wechseln. Dort hat der Professor für Audio-Signalverarbeitung ohnehin öfter zu tun. Und dort kann er, wenn gerade keine Versuche laufen, absolute Stille genießen.
Als Psychoakustiker beschäftigt sich Seeber mit dem faszinierenden Vorgang, wie der Mensch aus der physikalischen Größe Schall eine akustische Wahrnehmung macht. Stille ist für Seeber das Fehlen von Geräuschen, die über der Ruhehörschwelle des Menschen liegen. Ob wir etwas hören, hängt von der Kombination aus Frequenz, also der in Herz gemessenen Tonhöhe, und dem in Dezibel gemessenen Schalldruckpegel ab. Ein junger Erwachsener hört im Durchschnitt ein Frequenzspektrum von 20 bis 20.000 Hertz. Die Hörschwelle an den wichtigsten Frequenzen liegt zwischen 0 und 10 Dezibel.
Faszination Gehör
„Der Vorgang des Hörens ist jedoch noch viel komplexer, als die Beschreibungen von Lautstärke und Tonhöhe vermuten lassen“, schreibt Sigrid Engelbrecht in ihrem Buch „Stille“. Und auch Bernhard Seeber weist darauf hin. In einem Raum voller Menschen können wir uns auf eine Unterhaltung mit unserem Gegenüber konzentrieren. Was er sagt, filtern wir – etwa in einem Restaurant oder bei einer Party – aus einem Kuddelmuddel an Gesprächen und Geräuschen heraus. „Wir können unterschiedliche Geräusche mühelos voneinander unterscheiden, erkennen Menschen oft allein an ihrer Stimme und reagieren mit ganz unterschiedlichen Emotionen auf Musik“, schreibt Engelbrecht, die auch als Mental- und Wellnesstrainerin arbeitet.
Welche Wirkung Geräusche auf unsere Psyche haben, ist äußerst individuell. Die Autorin beschreibt das so: „Der Bezug, den wir zur Geräuschquelle haben, gibt nicht nur den Ausschlag dafür, ob Laute bis in unser Bewusstsein vordringen oder nicht, sondern auch, welche Art Geräusch wir – jenseits von Dezibel und Hertz – als Lärm werten.“ Lautstärke und Frequenz spielten natürlich eine Rolle, aber letztlich sei Lärm Ansichtssache. Die Party-Gäste singen lauthals einen Kassenschlager mit und finden es toll, während die Nachbarn überlegen, die Polizei zu rufen.
Stille in Goethes Worten
Stille dagegen ist eine eindeutige Angelegenheit. Ob wir sie als angenehm empfinden oder nicht, ist wiederum von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Johann Wolfgang von Goethe (1749 bis 1832) dürfte die Stille gemocht haben, er beschrieb sie sehr eindrücklich in diesem Gedicht:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Anselm Grün hat diese Worte Goethes in sein kleines Buch „Das Glück der Stille“ aufgenommen. In kurzen Texten beschreibt der Benediktinerpater darin, warum es sich lohnt, Stille zu suchen. „Die Stille stillt des Herzens Verlangen. Sie ist das wahre Glück des Menschen“, schreibt er zum Beispiel. Oder: „Wir brauchen nicht nur Hygiene für den Leib, sondern auch für die Seele. Und es gibt kein besseres Heilmittel und kein intensiveres Reinigungsbad als das Schweigen.“
Stille als Heilmittel
Der Psycho- und Musiktherapeut Eric Pfeifer, Professor für Ästhetik und Kommunikation mit Schwerpunkt Musik an der Katholischen Hochschule Freiburg, untersucht die Wirkung von Stille auf die psychische Gesundheit. Und er ist überzeugt, dass sie als therapeutisches Mittel taugt. „Stille hat die Kraft, das Gedankenkreisen, auch Rumination genannt, zu stoppen. Das ist ein häufiges Symptom bei diversen psychischen Erkrankungen“, sagte er in einem Interview mit dem „Spiegel“.
In den „Freiburger Stille-Studien“ habe man gesehen, „dass sich Stille intensivieren kann, wenn man sie beispielsweise in einem Park erlebt anstatt innerhalb eines Gebäudes“, sagte Pfeifer. Insgesamt hätten sich die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer aber nach der Stille-Erfahrung – egal ob drinnen oder draußen – besser gefühlt als davor. Man könne daher überlegen, „ob man so etwas wie professionelle, medizinische Stille-Praktiken etabliert“.
Das Thema Stille fasziniert uns. Bernhard Seeber erhält regelmäßig Anfragen zu dem Thema, der von ihm initiierte „Reflexionsarme Raum“ der TU München sei äußerst beliebt, erzählt er. Nicht nur bei Wissenschaftlern wie ihm, die darin an der Weiterentwicklung technischer Hör-Hilfen arbeiten, etwa dem Cochlea-Implantat. Sondern auch bei Menschen, die Stille erleben möchten.
Stille ist schwer zu finden
Der quaderförmige Raum steht frei auf einer Gummimatte, Wände, Decke und Boden sind mit Mineralfaserkeilen ausgekleidet. So lassen sich Vibrationen auf ein Minimum beschränken und es gibt kaum Reflexionen, der Schall wird also nicht zurückgeworfen. Ähnliche Bedingungen herrschten in der Natur nur bei Neuschnee, am besten oben auf einem Berggipfel, wo es auch drumherum nichts gibt, das Geräusche reflektiert.
Wer sich nach Stille sehnt und es vielleicht sogar schafft, sie irgendwo zu finden, stellt dann möglicherweise fest, dass er sie gar nicht gut aushalten kann. Der ständige sonore Lärmpegel in unserem Alltag erfülle eine wichtige Funktion, sagte der Kölner Psychologe und Gründer des Rheingold-Instituts, Stephan Grünewald, in einem Interview mit „Forschung und Lehre“. Wir fühlten uns nicht mehr allein und blieben im Fluss des Lebens, erklärte Grünewald. „Die Stille kann uns mit einer unaushaltbaren Leere in unserem Inneren konfrontieren.“
„Moderner Ohren-Schnuller“
Zwar fühlten wir uns durch Lärm und Hektik häufig gestresst, andererseits bezeichnet Grünewald die ständige Beschallung als „modernen Ohren-Schnuller“, als etwas Beruhigendes. Schließlich seien Klang und Geräusche unsere frühesten Sinneserfahrungen. „Wir werden quasi als Radiohörer geboren, weil wir bereits im Mutterleib von Herzschlag-Rhythmen und den Stimmen unserer Eltern umbraust waren“, sagte er. Die Stille könne Menschen noch mehr stressen als ein Lärmpegel, der es verhindere, die eigene Stimmung zu spüren.
Und doch wohnt da diese Sehnsucht nach Stille im Menschen. Sie findet in der Religion Ausdruck, in der Meditation – und in unseren Weihnachtsliedern, etwa in „Stille Nacht, heilige Nacht“. Grünewald sagte: „Da besingen wir eine Stille oder einen momenthaften Übergang, wo alle Widersprüche sich auflösen, wo sich alles friedlich fügt, wo wir uns im Ideal der weißen Weihnacht total geborgen und eingebettet fühlen.“
Die stillende Mutter
Bezeichnend ist auch der Begriff „Stillen“ für den Moment, wenn eine Mutter ihren Säugling an ihrer Brust trinken lässt. Grünewald weist genauso darauf hin wie Anselm Grün und Eric Pfeifer. Das Baby schreit, wenn es Hunger hat, und die Mutter muss es säugen, damit wieder Stille einkehrt. Der Benediktinerpater Grün erkennt in dieser Situation nicht nur den Hunger eines Kindes nach Essen, sondern den des Menschen „nach Leben, nach Liebe“.
Wir müssten den Mut haben, stehen zu bleiben und nicht vor der eigenen Wahrheit, den eigenen Bedürfnissen davonzulaufen, schreibt Grün. Diese seien „beachtet zu werden, gelobt zu werden, geliebt zu werden, zärtlich berührt zu werden“.
Laut Pfeifer sei entscheidend, ob wir der Stille allein und unfreiwillig ausgesetzt sind oder bewusst und in Begleitung. Die „Freiburger Stille-Studien“ zeigten: Stille allein wirke schon, aber ist eine Fachperson anwesend, steigere das die positiven Effekte noch einmal. Und wieviel Stille braucht der Mensch nun also? Das werde er immer wieder gefragt, sagte Pfeifer, aber eine Antwort habe er nicht. Denn: „Stille funktioniert natürlich nicht wie Ibuprofen.“ Jeder Mensch empfinde andere Stille-Situationen als angenehm.
Die „persönliche, magische Stille“
Sei es ganz klassisch der Moment der Ruhe einer Mutter mit ihrem Säugling an der Brust, die einträchtige Stille in einer Gesprächspause, eine Meditation, ein Aufenthalt im Kloster oder der abendliche Waldspaziergang mit dem Hund. Therapeut Pfeifer ist überzeugt, „dass es die Aufgabe der Menschen ist, ihre persönliche, magische Stille zu finden“. Für alle, denen das schwerfällt, findet Anselm Grün in seinem Buch noch diese Worte: „Wir können nur still werden, wenn das innere Urteilen und Verurteilen, das Bewerten und Entwerten zum Schweigen kommen.“
Quellen
- „Stille: Das Geheimnis der inneren Kraft“ von Sigrid Engelbrecht
- „Das Glück der Stille: Ruhe finden in einer lauten Welt“ von Anselm Grün
- https://www.spiegel.de/gesundheit/psychotherapie-stille-hat-die-kraft-das-gedankenkreisen-zu-stoppen-a-05f662a0-b12c-4684-9f60-3c7831a2298f
Bernhard Seeber
Experte
Münchner Psychoakustiker.
Stephan Grünewald
Experte
Kölner Psychologe und Gründer des Rheingold-Instituts.